Warum wir die Plastikkrise ernst nehmen müssen und wie wir aus ihr herausfinden

Kommentar

Aktuelle Trends sagen eine enorme Steigerung der Produktion von Plastik voraus, obwohl schon jetzt klar ist, dass Plastik unseren Planeten vermüllt. Ein „Weiter so“ wie bisher kann es nicht geben.

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Reduktion und Mehrwegsysteme zuerst!

Die Produktion und Nutzung von Plastik hat in den letzten 75 Jahren so stark zu genommen, dass das Material mittlerweile ein eigenes Zeitalter definiert. Wir leben im Plastozän mit allen Fortschritten, die uns der Kunststoff brachte, aber auch den unzähligen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Aktuelle Trends sagen eine enorme Steigerung der Produktion voraus, obwohl schon jetzt klar ist, dass Plastik unseren Planeten vermüllt. Ein „Weiter so“ wie bisher kann es nicht geben.

Die enormen Ausmaße der Plastikkrise sind überall sichtbar: Plastik ist im Wasser, in der Luft, im Boden, in Nahrungsmitteln und in den meisten Lebewesen nachweisbar. Der Kunststoff wird erst seit ca. 75 Jahren produziert, ist aber inzwischen in jeden Winkel des Planeten vorgedrungen, vom Marianengraben bis zum Mount Everest. Seit 1950 wurden insgesamt ungefähr 12 Milliarden Tonnen Plastik produziert. Im Vergleich dazu: Das Gewicht aller heute lebenden Menschen und Tiere beträgt ca. 4 Milliarden Tonnen.

Angesichts der Dimension der Plastikverschmutzung und der globalen Abhängigkeit von diesem Material sprechen manche bereits vom Plastozän, dem Plastikzeitalter. Ein Aspekt, der den Stoff in manchen Bereichen nützlich macht, ist genau das Problem: Plastik ist langlebig und baut sich nicht ab. Stattdessen zerfällt es in immer kleinere Teile, Mikro- und Nanoplastik, das sich überall ansammelt und sogar die menschliche Plazenta durchdringen und die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann. Entlang des gesamten Lebenszyklus der Substanz, von der Produktion bis zur Entsorgung, werden klimaschädliche Emissionen und schädliche Chemikalien freigesetzt. Denn mehr als 99 Prozent der Kunststoffe werden in chemischen Prozessen aus Erdöl und Erdgas oder auch Kohle hergestellt, denen verschiedene, häufig gesundheitsgefährdende Chemikalien beigemischt werden.

Wer treibt die Produktion an?

Die fossile und die petrochemische Industrie sind eng miteinander verknüpft und investieren Milliarden in die Ausweitung der Plastikproduktion. Multinationale Konzerne wie Exxon Mobil, ENI, BASF und INEOS fahren jährlich Gewinne in Milliardenhöhe ein. Daher verwundert es wenig, dass die Plastikproduktion in den kommenden Jahren noch um bis zu 40 Prozent gesteigert werden soll. Billig gefracktes Erdgas treibt den massiven Ausbau der Plastikinfrastruktur in den USA und anderswo an. Schätzungen zufolge werden petrochemische Produkte bis 2050 die Hälfte des Wachstums der globalen Ölnachfrage ausmachen und die Plastikproduktion für insgesamt 20 Prozent des Öl- und Gasverbrauchs verantwortlich sein. Das hat dramatische Auswirkungen auf das Klima, denn auf diesem Kurs wird Plastik allein zwischen 10 und 13 Prozent des globalen Kohlenstoffbudgets bis 2050 verbrauchen.

Die Verpackungsindustrie ist einer der größten Abnehmer von Kunststoffen. Verpackungen machen mit mehr als einem Drittel den höchsten Anteil der Plastikprodukte weltweit aus, die meisten davon sind Einwegverpackungen und nur extrem kurz in Gebrauch, bevor sie im Müll landen. Riesige Konsumgüterkonzerne wie Coca Cola, Nestlé und PepsiCo u.a. beziehen allesamt Verpackungen von Herstellern, die von der fossilen Plastikindustrie mit Kunststoffgranulat und petrochemischen Produkten versorgt werden. Sie treiben die gigantische Expansion der Plastikproduktion voran und überfluten den Planeten mit Unmengen an Plastikmüll.

2019 wurden weltweit über 465 Millionen Tonnen Plastik produziert, bereits doppelt so viel wie im Jahr 2000. Seit 2020 ist die Produktion von Einwegprodukten auch dank der Covid-Pandemie weiter explodiert. Analysten der petrochemischen Industrie identifizierten vier Covid-Nachfragetreiber: (Einweg-)Lebensmittelverpackungen, Verzögerungen bei Verboten von Plastiktüten, Online-Shopping sowie Hygiene und Medizin. Die expandierende Plastikproduktion verursacht unweigerlich immer mehr Plastikmüll. Laut einer Studie wird sich die Menge der weltweiten Kunststoffabfälle bis 2060 fast verdreifachen. Seit 1950 wurden global mehr als 8 Milliarden Tonnen Plastikmüll produziert. Während nur 11 Prozent davon recycelt und 15 Prozent verbrannt wurden, sind 74 Prozent  in der Umwelt und auf Deponien gelandet. Dieser Trend setzt sich fort. Die Plastikverschmutzung unserer Ökosysteme verringert nicht nur deren Fähigkeit, sich an den Klimawandel anzupassen, sondern trägt auch erheblich zum Verlust von Biodiversität bei und zieht unzählige Arten in Mitleidenschaft.

Recycling als drittbeste Option

Ist mehr Recycling die Lösung? 2019 wurden laut OECD weltweit nur 9 Prozent Plastik recycelt. Plastikrecycling ist kein einfaches Unterfangen. Viele Plastikverpackungen bestehen aus Verbundstoffen, die nicht mehr voneinander zu trennen und somit nicht recycelbar sind. Und die schiere Vielfalt der unterschiedlich nutzbaren Kunststoffe macht es schwierig: Farbstoffe, Zusatzstoffe, unterschiedlichste Zusammensetzungen – ganz so leicht lassen sie sich nicht miteinander verbinden. Und wer möchte schon, dass ein Joghurtbecher Rezyklat enthält, das aus seinem ersten Leben beispielsweise giftige Flammschutzmittel mitbringt? Diese Fragen stellen sich schon beim mechanischen Recycling, das das vorhandene Material nach der Sortierung zur Weiterwendung einschmilzt. Als ein weiteres Verfahren wird preist die Plastikindustrie die chemische Verwertung sehr stark an. Sie weckt die Hoffnung, dass auch sehr unterschiedliche und verunreinigte Kunststoffe erneut verwendet werden können. Durch chemische Prozesse wie die Pyrolyse oder Gasifizierung werden die Kunststoffe wieder in ihre chemischen Bestandteile (Monomere oder Oligomere) zurückgeführt, aus denen dann erneut Polymere, also Kunststoffe hergestellt werden können. Auch wenn dies vielversprechend klingt, um die Produktion von neuem Primärplastik zu umgehen, wird das Verfahren aus verschiedenen Gründen sehr kritisch gesehen: Es müssen hohe Energiemengen eingesetzt werden, es werden Schadstoffe in die Umwelt entlassen und giftige Reststoffe müssen gehandhabt werden. Die Technologie ist weder weit entwickelt noch in großem Stil marktreif, sodass das herkömmliche mechanische Recycling bei allen genannten Schwächen für die meisten Plastikabfälle die bessere Option ist.

Recycling ist für Verpackungen aber ohnehin nach Vermeidung und Mehrweglösungen nur die dritte Wahl, auch wenn der Handel das anders sieht. Der Lebensmitteldiscounter Lidl wollte im vergangenen Jahr mit einer Flasche aus 100Prozent Recyclingmaterial seine Liebe zur Natur beweisen. Man könnte dem Discounter fast dankbar sein, dass er damit eine Welle von Klar- und Richtigstellungen ausgelöst hat: Es ist nicht möglich, Plastik (oder auch andere Materialien) verlustfrei im Kreislauf zu führen. 100 Prozent Recycling heißt daher nichts anderes, als dass (hinzugekauftes) PET in den Produktionsprozess eingespeist werden muss – PET, das an anderer Stelle aus Rohmaterialien produziert wird.

Schadstoffe betreffen alle – aber vulnerable Gruppen häufiger und heftiger

Mit den im Plastik – teils mit, teils ohne Absicht – verarbeiteten Schadstoffen kommen wir schon in Kontakt, während wir die Plastikprodukte verwenden. Die sogenannten Ewigkeitschemikalien, die sich in der Umwelt nicht abbauen, beispielsweise per- und polyfluorierte Chemikalien (PFAS), kommen in Kosmetika, Kochgeschirr, Papierbeschichtungen, Textilien und anderen Alltagsgegenständen vor und gelangen so in Böden und ins Trinkwasser und damit in unsere Körper. Schwerwiegende Erkrankungen können die Folge sein. Auch hormonverändernde Chemikalien sind häufig in Plastik enthalten. Keine guten Nachrichten also, insbesondere für Frauen und Mädchen, deren Körper besonders sensibel auf diese Substanzen reagieren.

Plastik wirkt sich in der Tat unterschiedlich auf die Geschlechter aus und soziale Ungleichheiten sowie festgelegte Geschlechterrollen spielen dabei eine wichtige Rolle. Auch im Niedriglohnsektor und in – häufig armen – Gemeinden in der Nähe von petrochemischen Anlagen, Mülldeponien oder Verbrennungsanlagen ist die Exposition gegenüber Toxinen und Schadstoffen hoch, oft mit erheblichen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen. Insbesondere Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit dem Sammeln und Sortieren von Plastikmüll verdienen, sind diesen Risiken stark ausgesetzt. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) warnt davor, dass die ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Risiken von Plastik mittlerweile ebenso groß und belastend sind wie die Folgen der Klimakrise, der Verlust von Ökosystemen und die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen.

Wege aus der Plastikkrise - Reduktion und Mehrwegsysteme zuerst!

Plastikproduktion und -verbrauch müssen also dringend sinken, die Prognosen gehen jedoch von einer Verdreifachung des Plastikverbrauchs bis 2060 aus. Dabei gibt es bereits viele Lösungsansätze: Mit klugem Design könnten viele Produkte wesentlich langlebiger werden, auch Verpackungen könnten weit weniger materialaufwendig gestaltet werden. Einwegverpackungen beispielsweise für Kosmetika und Lebensmittel können und müssen durch Mehrwegsysteme ersetzt werden. Wenn diese so harmonisiert sind, dass Verpackungen überall abgegeben werden können, wie wir es in Deutschland beispielsweise von Mineralwasser- und Bierflaschen kennen, werden sie auch genutzt. Viele Produkte könnten auch unverpackt verkauft werden. Aber ohne politische Regulierung wird das nicht gehen und hier liegen gerade große Hoffnungen auf der von den Vereinten Nationen beschlossenen Resolution zu einem globalen Abkommen gegen Plastikverschmutzung. Die Verhandlungen dazu sind noch in vollem Gange, aber wenn es gelingt, ein globales, rechtlich verbindliches Abkommen zu schließen, das am Beginn der Produktionskette von Kunststoffen ansetzt, die beigefügten Chemikalien reguliert und die besonders betroffenen Gruppen einbezieht, könnte die Welt der Lösung ein Stück näherkommen.


Unsere Mediathek bietet gut recherchierte Publikationen, Websites und Medien zu verschiedenen Aspekten der Plastikkrise in englischer Sprache.


Dieser Beitrag erschien zuerst im Rundbrief Forum Umwelt und Entwicklung I/2024: "Ersticken wir in Plastik?"